Grundrechte sind unverfügbar

Für Sanktionsfreiheit bei Grundsicherungen

Es ist erst wenige Wochen her, dass der Bundestag einen Festakt aus Anlass des 65. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes mit einer wunderbaren und gleichwohl nachdenklich stimmenden Rede von Navid Kermani erlebt hat. In seinem Beitrag erinnerte der Schriftsteller nachdrücklich an die Aussage in Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Und genau aus diesem Grundsatz leitet das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums ab. Das Regelsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 besagt dazu ganz klar:„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dem Grunde nach unverfügbar …“ Weiter heißt es darin: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“Wobei die Betonung explizit auf den Worten „unverfügbar“ und „stets“ liegt, die keinen Deutungsspielraum lassen. Der notwendige Bedarf muss gedeckt werden, und zwar immer.

Beim soziokulturellen Existenzminimum handelt es sich also um ein Grundrecht, und Grundrechte kürzt man nicht. Wie wenig ernst es allerdings den Abgeordneten der schwarz-roten Koalition damit ist, das Existenzminimum, also das Mindeste, was ein Mensch zum körperlichen und sozialen Überleben braucht, auch allen zuzugestehen, das zeigte sich Anfang Juni, als DIE LINKE einen erneuten Antrag in den Bundestag einbrachte. Mit ihm wurde gefordert, sofort die Sanktionen bei Harz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abzuschaffen. Und das aus ganz klaren und belegbaren Gründen. So wurden allein im Jahr 2013 über 1 Million Sanktionen verhängt. Ganz konkret heißt das: über 1 Million Mal wurde Menschen das ohnehin niedrige Arbeitslosengeld II, also das Existenzminimum, gekürzt. Und zwar um 10 Prozent, um 30, dann um 60 Prozent, und am Ende kann es sogar komplett gestrichen werden.

Eine Offene Stelle für neun Erwerbsarbeitssuchende

Die Gegner/-innen der Sanktionsfreiheit bedienen sich unter anderem, vereinfacht ausgedrückt, folgender Behauptung: Wer suchet, der findet. Also im Klartext: Wer erwerbslos ist, der ist selbst daran schuld. Aber schon allein die Mathematik spricht eine andere Sprache: Das Verhältnis von offenen Stellen zu offiziell Erwerbsarbeitssuchenden war im vergangenen Jahr eins zu neun, wenn man nur die offensichtlichen statistischen Tricks herausnimmt. Auf eine offene Stelle kommen also neun Erwerbsarbeitssuchende. Das heißt, egal wie sich diese neun anstrengen: Acht von ihnen müssen nach mathematischen Grundsätzen leer ausgehen.Halten wir also fest: Erwerbslosigkeit ist keine individuelle Schuld; sie hängt vor allem mit der aktuellen Wirtschaftsweise zusammen. Darum müssen wir auch genau dort mit Lösungen ansetzen.

Damoklesschwert Sanktionen

Ein weiterer Vorwand, den insbesondere Redner/-innen der CDU/CSU immer wieder gern bedienen, lautet: Sanktionen betreffen nur drei Prozent aller Leistungsberechtigten; wenn wir uns darum kümmern, dann machen wir Politik vom Rande her. Das ist eine ungeheuerliche Ignoranz gegenüber Menschen, die in einer besonderen existenziellen Notlage sind. Und es stimmt auch nicht, denn hinter der Angabe drei Prozent steht „nur“ die jährliche Durchschnittszahl der gleichzeitig sanktionierten erwerbsfähigen Beziehenden von Grundsicherungsleistungen – unabhängig mit wie vielen Sanktionen sie belegt sind – insgesamt sind es mehr als 3 Prozent der Leistungsbeziehenden, die unter dem Sanktionssystem leiden müssen. Nicht vergessen werden sollte bei dieser Diskussion auch, dass die pure Möglichkeit einer Sanktion, dieses Damoklesschwert, viele bedroht und verunsichert. In erster Linie erwerblose Menschen, aber natürlich auch Erwerbstätige. Deswegen ist die Standardantwort vonseiten der CDU/CSU so verlogen, man müsse auch an diejenigen denken, die von früh bis abends arbeiten. Wer die Mitte steuerlich entlasten will, der kann das tun – indem er mit der LINKEN gemeinsam für Steuergerechtigkeit sorgt! Allerdings so zu tun, als ob die Verkäuferin, der Lehrer, die Kindergartenerzieherin oder der Krankenpfleger einen Cent mehr in der Tasche hätte, nur weil Erwerbslose noch schärfer und weiter sanktioniert werden, das ist schlicht und einfach verlogen. Wir wissen doch: Das Gegenteil ist der Fall. Das ist offiziell durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung belegt worden: Im Zuge von Hartz IV hat die Bereitschaft zugenommen, schlechte Löhne und familienunfreundliche Arbeitszeiten zu akzeptieren. Hartz IV ist also auch ein Angriff auf das Lohngefüge. Darum muss die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen im Interesse sowohl von Erwerbslosen und prekär Beschäftigten als auch von Kernbelegschaften liegen.

Sanktionen sind Ausdruck eines paternalistischen Erziehungsstaates in der Tradition des Arbeitshauses

Ein weiteres und gern gebrauchtes Vorurteil lautet, Sanktionen träfen nur diejenigen, die den ganzen Tag faul vor dem Fernseher sitzen. Die offiziellen Zahlen sprechen aber eine andere Sprache. 72 Prozent der Sanktionen gehen auf Meldeversäumnisse zurück. Möglicherweise sind die Betroffenen nicht zu einem Termin erschienen, weil sie keinen Brief erhalten haben oder Angst hatten, den Brief zu öffnen, der in einer Sprache verfasst ist, die für viele bedrohlich wirkt. Nur 12 Prozent der Sanktionen gehen zurück auf mögliche Ablehnungen von Maßnahmen oder Arbeitsplätzen. Darunter sind Maßnahmen, die oft nichts anderes als eine fragwürdige Beschäftigungstherapie für Erwachsene darstellen. Eine Sozialarbeiterin aus Neukölln bestätigte mir dies in einem Gespräch und sie sagte auch: „Das SGB sollte doch eigentlich ein Sozialgesetzbuch sein. Ich erlebe es zunehmend als Strafgesetzbuch.“ Sanktionen sind Ausdruck eines paternalistischen Erziehungsstaates. Der steht in der Tradition des Arbeitshauses. Erwachsene werden als Erziehungsbedürftige betrachtet. Wir als LINKE sagen Nein zu diesem paternalistischen Verständnis. Wir sagen Ja zu einem demokratischen Sozialstaat, der von demokratischen und sozialen Rechten ausgeht. Für uns ist es nicht hinnehmbar, wenn Erwachsene als Erziehungsbedürftige behandelt werden. Und es ist ebenso wenig hinzunehmen, dass das Grundrecht auf eine menschenwürdige Existenz verletzt wird. Um es auf den Punkt zu bringen: In der Auseinandersetzung zwischen oben und unten stärkt Hartz IV die Besitzenden und schwächt diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft als Ware haben. Darum werden wir, DIE LINKE, uns niemals mit Hartz IV zufriedengeben. Wir sagen ganz klar: Wer wie wir eine angstfreie Gesellschaft möchte, der muss Hartz IV und die Hartz-IV-Sanktionen abschaffen und eine individuelle, sanktionsfreie Mindestsicherung einführen. Viele, auch ich, gehen noch weiter, und streiten für ein Bedingungsloses Grundeinkommen.

Katja Kipping, MdB ist Parteivorsitzende der LINKEN