Rentenpaket ohne Niveau

Ein Armutszeugnis für die Schwarz-Rote Koalition

Am 1. Juli 2014 werden sich viele Rentnerinnen und Rentner endlich wieder über Leistungsverbesserungen freuen dürfen.

–    Mütter (und einige Väter), die ihre Kinder vor 1992 bekommen haben, werden sich am 1. Juli freuen, dass die Erziehung ihrer Kinder in der Rente besser anerkannt wird, vor allem im Westen, etwas weniger im Osten.

–    Ein im Juli 1951 geborene Industriemechaniker und die im Dezember 1952 geborene Verkäuferin, die beide 45 Jahre Beiträge in die Rentenkasse gezahlt haben, werden sich freuen, in diesem bzw. im kommenden Jahr an ihrem 63. Geburtstag ohne Abschläge in Rente gehen zu können.

–     Auch die Altenpflegerin mit dem völlig kaputten Rücken, die am 1. Juli in Erwerbsminderungsrente gehen muss, kann sich über durchschnittlich 36 Euro mehr Erwerbsminderungsrente freuen und darüber, dass die letzten vier Jahres ihres Erwerbslebens besser bewertet werden.

Ja, manches wird besser. Aber in den kommenden Jahren werden die durchschnittlichen Renten weiter hinter den Löhnen zurückbleiben: Die Renten werden an Kaufkraft verlieren und noch weniger vor Altersarmut schützen als bisher.

Warum aber führen die selektiven Verbesserungen des Rentenpakets zu sinkenden Renten für Alle? Was ist der eigentliche ‚Sanierungsbedarf‘ am Haus der gesetzlichen Rentenversicherung und was wäre dafür zu tun?

Bundesministerin Andrea Nahles wirbt in Reden und Interviews für das Rentenpaket mit der Anerkennung der Lebensleistung. Schauen wir aber etwas genauer auf die einzelnen Verbesserungen, so erkennt man die Krux: Manches wird besser, aber nichts wird gut!

So profitieren von der sogenannten „Mütterrente“ Erziehende, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. Sie erhielten bislang nur einen sogenannten Entgeltpunkt[1] gutgeschrieben, Eltern von jüngeren Kindern jedoch drei. Diese Gerechtigkeitslücke wird allerdings nicht geschlossen, sondern nur verringert: Für die älteren Kinder gibt es ab sofort zwei Entgeltpunkte. Deren Mütter (und die wenigen Väter, die Erziehungszeiten bei der Rente geltend machen können) werden ab dem 1. Juli im Westen 28,60 Euro brutto mehr Rente im Monat erhalten und im Osten – 25 Jahre nach dem Mauerfall – nur 26,38 Euro. Somit bleibt auch die Gerechtigkeitslücke zwischen Ost und West nach wie vor bestehen.

Zudem profitieren vom Rentenpaket der Großen Koalition besonders langjährig Versicherte der Jahrgänge 1949 bis 1963, die zukünftig zwischen 63 und 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen können, wenn sie 45 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Allerdings werden hier Hartz IV-Beziehende diskriminiert. Ihr Arbeitslosenhilfe- oder ihr SGB-II-Bezug wird nicht auf die 45 Jahre angerechnet. Was die Lebensleistung eines Maurers, der viermal ein Jahr arbeitslos war, von der eines Maurers unterscheidet, der einmal vier Jahre lang arbeitslos war, wird wohl von Gerichten zu klären sein. Denn während Zeiten der Arbeitslosigkeit, in denen Arbeitslosengeld gezahlt wird, mitgerechnet werden – außer den letzten beiden Jahren vor Renteneintritt – bleiben Zeiten des Hartz-IV-Bezugs außen vor.

Schließlich werden noch die zukünftigen Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner im Durchschnitt mit 40 Euro brutto (rund 36 Euro netto) mehr rechnen können. Das ist zwar zu begrüßen, doch dieser Tropfen auf den heißen Stein wird kaum dazu beitragen, diese Rente armutsfest zu gestalten. Dem Anspruch, dauerhaft Kranke vor einem sozialen Abstieg zu bewahren, wird sie daher nach wie vor nicht gerecht. Die aktuellen Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner gehen sogar ganz leer aus. Der Sinkflug dieser sozialpolitisch so wichtigen Errungenschaft wird also nicht gestoppt.

Das sind die Gerechtigkeitslücken, die sich aus den Detailregelungen des Gesetzes ergeben, aber noch problematischer sind die großen Strukturprobleme der Alterssicherung, die unbearbeitet bleiben:

Wir wissen schon jetzt: In Zukunft werden die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt (Langzeiterwerbslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Minijobs, Soloselbständigkeit, Leiharbeit usw.) noch härter auf die Höhe der individuellen Renten durchschlagen. Vor allem jüngere Generationen und Beschäftigte fragen sich zu Recht, warum sie zukünftig bis 67 arbeiten werden müssen und warum ihre Rente trotz höherer Beiträge relativ niedriger sein wird als die vorangegangener Generationen. Der Vertrauensverlust der gesetzlichen Rentenversicherung wird sich also noch weiter verschärfen.

Denn die eigentlichen Systemfehler der gesetzlichen Rente, die ihre Zukunftsfähigkeit gefährden, geht die Bundesregierung erklärtermaßen nicht an. Im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ sagt Bundesministerin Nahles das auch sehr deutlich: „An den Rentenreformen der letzten zwölf Jahre ändern wir faktisch nichts.“[2]

Blicken wir deshalb kurz in die Geschichte der Rentenpolitik zurück.

Vom Notgroschen zum Lohnersatz – und wieder zurück?

Die Rente entwickelte sich nach 1957 von einem Notgroschen, der das Überleben im Alter sichern sollte, zu einem echten Lohnersatz. Ihr Ziel war es, den einmal erreichten Lebensstandard zu sichern und ein würdevolles Leben im Alter zu gewährleisten. Dazu wurde die Rente zweifach dynamisiert bzw. an die Entwicklung der Löhne gekoppelt: Zum einen wurde sie gekoppelt an die relative Position der individuellen Einkommen während eines Arbeitslebens. Die Faustformel lautet heute: Ein halber Durchschnittsverdienst ergibt einen halben Entgeltpunkt, ein Durchschnittsverdienst einen ganzen Entgeltpunkt. Zeiten der Arbeitslosigkeit und Zeiten mit niedrigen Löhnen wirken sich also als fehlende oder niedrige Entgeltpunkte aus.

Zum anderen wird die Höhe der aktuell ausgezahlten Renten jährlich an die jeweiligen Durchschnittslöhne der gesamten Volkswirtschaft angepasst. Dafür werden die Entgeltpunkte jährlich zum 1. Juli mit dem aktuellen Rentenwert multipliziert. Damit sollen Kaufkraftverluste weitgehend reduziert werden. Finanziert werden diese Leistungen über ein Umlageverfahren, das über einen solidarischen Generationenvertrag legitimiert wird.

Das war einmal. Vom Prinzip der Lebensstandardsicherung als Ziel abgerückt zu sein, den Generationenvertrag durch einen Generationenkonflikt aufgekündigt und die Umlagefinanzierung durch eine kapitalgedeckte Vorsorge unterminiert zu haben, das sind die größten Sündenfälle die SPD, Grüne, Union und FDP zu verantworten haben. Aus einer Rente mit definierten Leistungen wurde eine Rente mit definierten Beiträgen.

Das Ziel, den Lebensstandard im Alter zu sichern, wurde so in den vergangenen 20 Jahren systematisch zerstört. Und zwar mit Hilfe der Beitragssatzbegrenzung und den drei Kürzungsfaktoren: dem Nachhaltigkeitsfaktor, dem Nachholfaktor und dem sogenannten Riesterfaktor. Dahinter verbergen sich komplizierte Berechnungen und Rückwirkungen[3]. Denn heute steht einerseits im Vordergrund, die Beiträge zur Rentenversicherung zu senken bzw. zu begrenzen – die Arbeitnehmer*innen sollen ja schließlich „riestern“ und die Arbeitgeber*innen sollen nicht stärker belastet werden – und andererseits die Ausgaben zu drosseln. Mehrausgaben im einen Jahr führen deshalb automatisch zu niedrigeren Rentenerhöhungen im Folgejahr.

Das Rentenniveau wird noch stärker sinken

Dieser fatale und durch die komplizierten Formeln auch geschickt entpolitisierte Automatismus zeigt sich aktuell besonders deutlich: Die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel drücken schon ohne das aktuelle Rentenpaket das „Sicherungsniveau der Rente vor Steuern“ – also das Verhältnis der Standardrente zum Durchschnittseinkommen – von 53 Prozent (im Jahr 2001) auf 44,4 Prozent (2030). Die ab 1. Juli 2014 geltenden Änderungen führen dazu, dass das Rentenniveau noch stärker sinken wird, nämlich auf 43,7 Prozent. Die Renten verlieren wegen der Kürzungsfaktoren und ihrer Rückkopplungen in diesem Zeitraum ein Fünftel ihres Wertes. Statt 1000 Euro werden sie nur noch 810 Euro wert sein.

Ein Beispiel: Eine ostdeutsche Erwerbsminderungsrentnerin erhält im Durchschnitt 619 Euro Rente ausgezahlt (2012). Der Bruttobedarf für ältere Grundsicherungsempfänger in Brandenburg liegt derzeit bei 689 Euro. Durch die Reformmaßnahme von Schwarz-Rot wird eine ab Juli in EM-Rente gehende Rentnerin einen Zuschlag von 36 Euro netto erhalten und damit 655 Euro bekommen. Sie liegt damit immer noch unterhalb der Grundsicherungsschwelle. Im Jahr 2030 wären davon aber nur noch 597 Euro (heutige Werte) übrig. Dabei sind die Preissteigerungen noch gar nicht berücksichtigt.

Die Rentenerhöhung ist also für die unverschuldet krank gewordene Brandenburgerin zu gering, um sie aus der Grundsicherung herauszuholen. Aber es kommt noch schlimmer: Die Erhöhung von heute wird ihr durch ausbleibende Rentenanpassungen dann Jahr für Jahr wieder weggenommen!

Die paradoxen Folgen lassen sich aber besonders eindrücklich an der sogenannten „Mütterrente“ zeigen: Zwar bringt sie den betroffenen Müttern eine kleine Rentenerhöhung je Monat (28,60 Euro im Westen, 26,38 Euro im Osten). Aber allein wegen des Rentenpakets wird eine Durchschnittsrentnerin bis zum Jahr 2030 auf gut 20 Euro Rente wegen der Niveauabsenkung verzichten müssen. Diese Dimension wurde von der Rentenversicherung in der Anhörung bestätigt.

Warum hat die SPD dieses Problem verdrängt? Erstens: Weil es immer noch einen Tabubruch bedeutet, den Agenda-2010-Sozialraub grundsätzlich zu korrigieren. Zweitens aber, weil sie sich gegenüber der Union nicht durchsetzen konnte und das teuerste ihrer Reformprojekte, die sogenannte „Mütterrente“, nicht über Steuern, sondern aus den Beiträgen der Versicherten finanziert wird. Dass Kindererziehung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, scheint im Rentenrecht nicht mehr zu gelten. Dabei waren sich in der Bundestagsanhörung fast alle Sachverständigen einig, dass die „Mütterrente“ aus Steuern finanziert werden müsse.

Was bleibt zu tun?

Das von der SPD so gefeierte Rentenpaket zeigt also eine deutliche Schieflage: Unsystematische Verbesserungen für Einige werden zu sinkenden Renten für Alle führen.

Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Gewerkschaften in der Debatte zunächst die Rente ab 63 bzw. 65 gegen die haltlosen Frühverrentungs-Kampagnen von CDU und Arbeitgebern verteidigt haben und erst anschließend eine Stabilisierung des Rentenniveaus einforderten.

Die Argumentation hat aber auch einen entscheidenden Schwachpunkt: Denn durch die Finanzierung der sogenannten Mütterrente aus Beitragsmitteln fehlt auf lange Sicht der finanzielle Spielraum in der Rentenkasse, um die notwendigen großen Reformschritte durchzusetzen. Die Rentenkasse – sprich die Nachhaltigkeitsrücklage – wird in den nächsten Jahren für die „Mütterrente“ geplündert werden müssen.

Die Chancen für echte Verbesserungen, vor allem für ein höheres Rentenniveau, das der aktuellen Generation von Rentnerinnen und Rentner und auch den zukünftigen Generationen zu Gute käme, sinken dadurch massiv. Der zweite Schritt – gezielte Leistungsverbesserungen – wird vor dem ersten gemacht. Die Kürzungsfaktoren und die Fehlfinanzierung bewirken schließlich, dass der eigentlich notwendige erste Schritt – die Anhebung des allgemeinen Leistungsniveaus – auf Jahre hinaus blockiert sein wird.

Wer echte Teilhabe der Älteren will, muss endlich die Kürzungsfaktoren aus der Rentenanpassungsformel streichen und wieder zu einem Rentenniveau von 53 Prozent wie im Jahre 2001 zurückkehren. Das fordern auch die Gewerkschaften und Sozialverbände und das würde in den kommenden Jahren die Renten der älteren Generation stabilisieren. Dieser Weg würde zugleich auch die Jüngeren davon überzeugen, nicht nur auf die Höhe ihrer Beiträge zu schielen, sondern mit einem Blick auf die jährliche Renteninformation zu sehen: Die gesetzliche Rente ist sicher – und zwar deutlich sicherer als jede privat finanzierte Zusatzversicherung. Die Deutsche Rentenversicherung hat kürzlich errechnet, dass beispielsweise verheiratete Männer und Frauen, die 2040 in eine gesetzliche Rente gehen, noch mit einer Rendite von 3,3 Prozent rechnen können. Das sind Werte von denen man bei Riesterverträgen nur träumen kann!

Eine moderate jährliche Beitragserhöhung würde zusammen mit einem Ende der unsinnigen Riesterförderung finanzielle Spielräume für diese Große Rentenreform eröffnen. Denn damit könnte das Rentenniveau stabilisiert, die Regelaltersgrenze wieder von 67 auf 65 gesenkt und eine armutsfeste Erwerbsminderungsrente geschaffen werden. Das sind aktuell die wichtigsten Herausforderungen.

Wer aber auf lange Phasen mit schlechten Löhnen, Arbeitslosigkeit oder Krankheit zurückblicken muss, erreicht auch mit einem guten Rentenniveau keine Rente, die im Alter ein Leben frei von Armut ermöglicht. DIE LINKE fordert deshalb eine steuerfinanzierte Solidarischen Mindestrente von 1.050 EUR netto.

Nichts davon wurde im Rentenpaket angepackt – ein Armutszeugnis für die Schwarz-Rote Koalition.

[1]  Entgeltpunkte sind die zentrale Werteinheit der gesetzlichen Rentenversicherung. Vereinfacht: Wer für ein Jahr in Höhe des Durchschnittseinkommens Beiträge bezahlt hat, bekommt auf dem Versicherungskonto einen Entgeltpunkt gutgeschrieben, bis zur Beitragsbemessungsgrenze, die aktuell bei etwas mehr als dem Doppelten des Durchschnitts liegt.

[2]  Vgl. „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 13.4.2014.

[3]  Diese Rückwirkungen sind vor allem in der Stellungnahme der Arbeitnehmerkammer Bremen detailliert dargestellt: Ausschussdrucksache 18 (11) 82, S. 14ff. Das Protokoll der überaus interessanten Anhörung sowie die Stellungnahmen von Gewerkschaften, Verbänden und aus der Wissenschaft findet man hier

Matthias W. Birkwald ist Rentenpolitischer Sprecher und Obmann im Ausschuss für Arbeit und Soziales der Bundestagsfraktion DIE LINKE