Der Weddinger Blutmai jährt sich in diesem Jahr zum 85. Mal und sollte Mahnung sein. Gerade in der aktuellen Krise um die Ukraine ist es wichtig, anhand vorliegender Fakten ein historisches Ereignis aufzuarbeiten und aufzuzeigen, welche Folgen einseitige mit Lügen durchsetzte Propaganda haben kann.
Bei den Reichstagswahlen 1928 wurde die KPD mit 40,2 % der Stimmen stärkste Partei im Wedding. Offenbar ein Grund für die SPD – geführte Regierung, mit allen Mitteln gegen sie vorzugehen. Zu den Mitteln zählen Propaganda mit erfundenen Meldungen, Lügen, Provokationen und letztlich brutale Gewalt.
Bewusste Falschmeldungen schon im Vorfeld
Am 13. Dezember 1928 ordnet der sozialdemokratische preußische Innenminister Grzesinski ein Demonstrationsverbot für Berlin an, das der ebenfalls sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel unterzeichnet.
Auszüge aus einem internen Polizeibericht über die Sitzung der engeren KPD-Bezirksleitung am 12. April 1929: „Die kommunistische Führung nimmt ein Blutvergießen in Kauf. Sie hat jedoch ausdrücklich eine friedliche, unbewaffnete Demonstration beschlossen. Aus der Sitzung wird weiter zitiert: „So werde jede Schuld für eventuelle Zusammenstöße auf die Polizeisozialisten fallen. Am 1.Mai soll keine Austragung von Machtkämpfen stattfinden. Mit allen Mitteln sind Tendenzen zu bekämpfen, dahingehend, mit militärischen Maßnahmen zu spielen.“
In einem Polizeibericht über die Zusammenkunft des Zentralen Mai-Komitees am 19. April wird der kommunistische Abgeordnete Kasper zitiert: „Die Arbeiterschaft lässt sich ihr traditionelles Recht auf die Maidemonstration nicht nehmen.“
Die sozialdemokratische Zeitung „Vorwärts“ schreibt am 19. April hingegen: „ Die KPD will Tote… sie fordert auf, Zusammenstöße zu provozieren.“
Am 20. April: „KPD braucht Leichen! Sie wünscht Schüsse am 1. Mai.“
Im internen Polizeibericht über die Versammlung der Maikomitees vom 29. April wird Wilhelm Pieck zitiert: „Die Partei wolle eine friedliche und unbewaffnete Demonstration.“
Die „Vorwärts“ am 29. April: „200 Tote am 1.Mai: Verbrecherische Pläne der Kommunisten. Nach Mitteilung des sozialdemokratischen Vorsitzenden Künstler hat am 25. April die kommunistische Bezirksleitung im Karl-Liebknecht-Haus getagt, um die endgültigen Aufmarschpläne festzulegen. Dabei wurde von der Bezirksleitung mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass man mit etwa 200 Toten rechne… Vielleicht hofft man auch, dass bei Zusammenstößen am Alexanderplatz Demonstranten in die Baugruben der Untergrundbahn gehetzt werden können, so dass man auf diese Art zu 200 Toten käme, die man unbedingt für die Kommunistische Agitation braucht.“
Die politische Polizeiabteilung IA fertigte über alle Sitzungen der Bezirksleitung der KPD detaillierte Berichte an, da sie über mindestens einen Informanten dort verfügte. Über den 25. April gibt es keinen Bericht, da an diesem Tag ausnahmsweise gar keine Bezirksleitungssitzung stattgefunden hat.
Lügen vs. Fakten aus den Archiven
1. Mai: Die Polizeibeamten sind gereizt. Seit mehreren Tagen befinden sie sich im Alarmzustand. Seit 7 Uhr früh in höchster Alarmbereitschaft. Die Äußerung von Innenminister Grzesinski im Landtag „Ich werde die Beamten, wenn sie in berechtigter Erregung sich gelegentlich einen Übergriff zu schulde kommen lassen, decken“ spielt eine verhängnisvolle Rolle beim Vorgehen der Polizeioffiziere und Mannschaften.
Aus einem Erfahrungsbericht des Kommandos der Schutzpolizei: …diesmal gemachte Beobachtungen, dass selbst schwere Schläge mit dem Polizeiknüppel auf verbissene Personen nicht rasch und nachhaltig genug wirken.
Die polizeilichen Fernmeldungen enthalten immer wieder die Information, die Polizeibeamten sind zuerst von Kommunisten angeschossen worden. Vor allem zahlreiche Dachschützen in der Kösliner Straße bereiten den Ordnungskräften Probleme.
Dies wird von den Polizeiführern als Beweis für die Existenz eines bewaffneten Aufstands gewertet; die seit Jahren gelehrten Methoden zur Bekämpfung eines solchen Aufstandes traten damit in Kraft.
In der Öffentlichkeit wurden die Vorgänge gezielt verfälscht, wie Recherchen in den weitgehend noch vorhandenen Polizei- und Gerichtsunterlagen ergeben.
So wurde der rücksichtslose Polizeieinsatz unter dem vom preußischen Innenminister Albert Grzesinski gedeckten Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel (beide SPD) u. A. mit dem Vorhandensein zahlreicher Dachschützen begründet.
Der „Vorwärts“ berichtet später: „Ein Leutnant der Schutzpolizei war über eine Stunde in einem Haus eingeschlossen. Bei jedem Versuch, das Haus zu verlassen, schlug den Beamten von den umliegenden Dächern ein prasselndes Feuer entgegen. Durch einen Zufall hatte die Polizei trotz Geschosshagels keine Verletzten, doch sind 14 Karabiner dadurch unbrauchbar geworden, dass sie in den Händen der Beamten zerschossen wurden.“
Nach polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Unterlagen wurden während des gesamten Blutmai zwei angebliche Dachschützen auf einem Dach in der Kösliner Straße verhaftet, wovon einer eine Waffe bei sich trug, die in einem Polizeibericht folgendermaßen beschrieben wurde: „Wenn auch die Waffe auf größere Entfernung fast unwirksam ist, so ist doch zu bedenken, dass sie in ihrer Knallwirkung geeignet ist, Unruhe in der Bevölkerung zu erregen.“ Der gerichtliche Sachverständige sprach von einer „Flobert-Pistole, deren Handhabung für den Schützen am gefährlichsten ist.“
Die zwei Verhafteten wurden später frei gesprochen. Auf den Dächern wurde keine einzige Patronenhülse gefunden.
13 Uhr 45: Der sozialdemokratische Reichsbannerführer wird als erstes Weddinger Todesopfer an einem Fenster in seiner Wohnung Kösliner Straße 19 von Polizeibeamten erschossen.
Polizeiliche Fernmeldung: Wiesen- Ecke Uferstraße ist um 14 Uhr 10 ein Zug von etwa 400 Teilnehmern aufgelöst worden. Die KPD hat etwa 30 Schüsse zum Teil aus Fenstern der Kösliner Straße abgegeben. Die Polizei gab etwa 25 Schüsse ab.
Gegen 16 Uhr 30 kommt es in der Prinz-Eugen-Straße zu einem Zusammenstoß zwischen einem Demonstrationszug mit ca. 1 500 Jugendlichen, die die Internationale sangen, und der Polizei, bei dem der junge Röpnick einen tödlichen Kopfschuss erhält. Aus den Unterlagen der Staatsanwaltschaft geht hervor, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass er sich an der Demonstration beteiligt hat.
Aus dem „Erfahrungsbericht vom 41. Polizeirevier: „Gegen 18 Uhr 30 wurde in großer Eile die Kösliner Straße von der Weddinger Straße aus durch Barrikaden gesperrt.“
Die beiden Zeitungen „Tag“ und „Nachtausgabe“ berichten später hierzu fast identisch: „Hinter der Barrikade nahmen etwa 100 Kommunisten mit Waffen in der Hand Aufstellung. Gleichzeitig wurden fast sämtliche Fenster geöffnet, und in ihnen erschienen ebenfalls, mit Pistolen in der Hand, zerlumpte Gestalten. Auch die Dächer der Häuser waren besetzt, und plötzlich, als eine Polizeistreife in einem offenen Streifenwagen vorüberfuhr, setzte von allen Seiten ein mörderisches Feuer ein…Erst nach mehr als einstündigem Kampf, bei dem etwa 2.000 Schüsse gefallen waren, war es den Polizeimannschaften gelungen, die Barrikade zu erreichen.“
An den sogenannten „Barrikaden“ wurde kein einziges Opfer gefunden, die Mehrzahl der Weddinger Getöteten wurden in ihren Wohnungen, Hausfluren oder Höfen erschossen, wie die Berichte aus den amtlichen „Leichensachen“ ergaben. Es wurden auch keine Patronenhülsen an den Barrikaden gefunden.
Tatsächlich wurden während des gesamten Blutmai zwei angebliche Dachschützen auf einem Dach in der Kösliner Straße verhaftet, wovon einer eine Waffe bei sich trug, die in einem Polizeibericht folgendermaßen beschrieben wurde: „Wenn auch die Waffe auf größere Entfernung fast unwirksam ist, so ist doch zu bedenken, dass sie in ihrer Knallwirkung geeignet ist, Unruhe in der Bevölkerung zu erregen.“ Der gerichtliche Sachverständige sprach von einer „Flobert-Pistole, deren Handhabung für den Schützen am gefährlichsten ist.“
Aus einem internen Verlaufsbericht des Kommandos der Schutzpolizei: „Es wurde eine gründliche Untersuchung der Kösliner Straße vorgenommen. Hierbei wurde eine recht erhebliche Anzahl von Waffen aller Art gefunden.“
Während des gesamten Blutmai wurden im Wedding nach den Unterlagen der zuständigen Staatsanwaltschaft und Gerichtsakten insgesamt 3 Schusswaffenträger verhaftet und die Bilanz der gigantischen Hausdurchsuchungen nach Waffen ergaben 4 brauchbare Revolver,
Die Bilanz nach vorliegenden Dokumenten
Aus den veröffentlichten Angaben des Polizeipräsidenten: „Beschlagnahmte Schusswaffen in der Kösliner Straße; 1 Trommelrevolver, 1 unbrauchbarer Trommelrevolver, 1 Ortgies-Pistole, 2 Taschenteschnings.“
Dem Archiv der Polizei ist zu entnehmen, dass die Beamten 10.981 Schüsse abgegeben haben, davon 7.885 aus Pistolen und 3.096 aus Karabinern oder Maschinengewehren.
Aus den „Leichensachen“ der Polizeiabteilung I A ergibt sich,
a) dass kein einziges Todesopfer mit irgendwelchen Waffen gefunden worden war.
b) dass in keinem Fall zu beweisen ist, dass das Todesopfer ein Demonstrant war, dagegen ist in der weit überwiegenden Mehrheit der Fälle nachgewiesen, dass der Getötete unbeteiligt war.
c) dass von allen 32 getöteten Personen nur eine Mitglied einer kommunistischen Organisation war.
Liste der Weddinger Toten am 1.Mai laut amtlicher Leichensachen:
Bäcker Bruno Querner, 24, Stralsunder Straße 69, von Polizeiwagen überfahren.
Bauklempner Max Gemeinhardt, 52, Kösliner Straße 19, Ort des Vorfalls: Wohnung, Bemerkung: Fenster
Buchdruckereihilfsarbeiter Paul Röpnack, 33, Triftstraße 68, Ort des Vorfalls: Anton- Ecke Prinz-Eugen-Straße
Ehemaliger Betriebsmeister Karl Felsch, 79, Pankstr. 85, Ort des Vorfalls: Wohnung
Schlosser Otto Granowsky, 54, Hochstr. 45, Ort des tödlichen Vorfalls: vor Gerichtstr. 23
Lagerverwalterin Erna Rosenberg, 22, Kösliner Straße 2, Ort des Vorfalls: auf dem Hof des Wohnhauses, Bemerkung: Schuss durch die Tür
Kaufmann Louis Fröbus, 56, Kolberger Straße 20, Ort des Vorfalls; vor Wiesenstraße 54
Kriegsinvalide Albert Heider, 47, Prinz-Eugen-Straße 29, Ort des Vorfalls: Hausflur Kösliner Straße 13, Bemerkung: Schuss durch die Tür
Arbeiterin Klara Kowalewski, 16, Ackerstraße 35, Ort des Vorfalls: vor Gerichtstraße 25
Arbeiter Hermann Schäfer, 64, Oudenarder Straße 4, Ort des Vorfalls: Fenster des Balkons der Wohnung
Die Bilanz der Opfer bei der Polizei im Wedding laut amtlichem Bericht des Polizeipräsidenten:
Franz B., Vorfall: Martin-Opitz-Straße, 4. Bereitschaft Nord. Verletzung des Mittelhandknochens der linken Hand durch Bierseidel. Hauskrank.
Polizeioberwachtmeister Hermann M., Vorfall Rügener Straße, Ecke Putbusser Straße. Schlag ins Gesicht, 1 Zahn ausgeschlagen, starke Wangenschwellung und kleine Wunden. Hauskrank.
Berlin war 1929 die einzige deutsche Stadt, in der die Maidemonstration verboten war – und nur in Berlin ist Blut geflossen. Die schreckliche Bilanz: 32 getötete Zivilpersonen vom 1. bis 3. Mai. Die Anzahl der verletzten Zivilisten ist nicht bekannt, da nur 17 von 161 Revieren eine namentliche Liste der ihnen bekannten Mai-Verletzten weitergab. Dies waren ca. 200 namentlich bekannte, so dass man von rund 2.000 Verletzten ausgehen muss.
Die Bilanz der amtlich registrierten Opfer der Polizei vom 1. bis 3. Mai in ganz Berlin:
0 getötete Beamte, 0 durch Schuss verletzte Beamte, 2 ins Krankenhaus überwiesene Beamte, 13 als verletzt anerkannte Beamte. Die meisten hiervon wurden mit „hauskrank“ vermerkt. Die Verletzungen gehen von „durch Fausthieb leicht im Gesicht verletzt“ über „Verstauchung des rechten Handgelenks“ oder „beim Laufen gefallen“ bis „durch Wurf mit einem Bierseidel dienstunfähig“
Die nazistische „Arbeiterzeitung vom 5. Mai trägt als Balkenüberschrift über die ganze erste Seite: „Zörgiebel mordet Marx“. Gleichzeitig propagiert Goebbels, alle Kommunistenführer hätten ihre Anhänger im Stich gelassen.
Die NSDAP erzielt ihren ersten großen Erfolg bei den Landtagswahlen in Sachsen am 12. Mai 1929.
Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ am 17.Mai: „Das starke Anwachsen der Nationalsozialisten ist mindestens zum Teil auf Rechnung der blutigen Vorgänge in Berlin zu setzen.“