Die Braut macht sich schön

Beschlüsse der Partei sind da hinderlich

Ich habe vorgestern unten stehenden Brief an alle Bundestagsabgeordneten der Fraktion DIE LINKE geschickt. Wer denkt, es ginge hier um Kleinigkeiten bei einer Formulierung, dem sei gesagt: Es geht um die Frage, ob sich hier eine Braut schön machen will für eine mögliche künftige Koalition auf Bundesebene. Und über die Voraussetzungen hierfür gibt es in meiner Partei konträre Positionen. Für DIE LINKE gibt es drei Zentrale Punkte in der Auseinandersetzung im herrschenden parlamentarischen System: 1. Die Friedensfrage, 2. Soziale Gerechtigkeit und 3. Die zwangsläufig damit verbundene Frage der Verteilung von oben nach unten.

Die gerade erfolgte Wahl von Bodo Ramelow zum ersten LINKEN Ministerpräsidenten eines Bundeslandes, zu der ich Bodo und den Thüringer Genossinnen und Genossen herzlich gratuliere, zeigt die Problematik ganz deutlich auf. Vor fünf Jahren scheiterte dieser Versuch daran, dass Bodo Ramelow von der SPD Thüringen eine Absage an Hartz IV gefordert hatte. In den jetzigen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen wurde diese Frage ausgeklammert, was in meinen Augen durchaus vernünftig war, da diese Frage ohnehin nicht auf Landesebene entschieden werden kann. Das war eine der Voraussetzungen für diese Regierungsbildung.

Ich bin der Meinung, dass eine solche Strategie durchaus legitim ist, auch wenn ich sie auf Bundesebene nicht teile. Nach dem Motto: Der Weg der kleinen Schritte hilft den Menschen mehr als Daueropposition. Meine Lebenserfahrung und die Historie anderer Parteien hat allerdings gezeigt:

Wer längere Zeit in Schlangenlinien durch den Wald läuft, weiß irgendwann nicht mehr, wo er eigentlich hin wollte.

Bei der Frage, in der es in meinem Brief geht, handelt es sich darum, ob die Bundestagsfraktion sich über Parteibeschlüsse hinwegsetzen kann, indem sie diese aufweicht. Die Position der Partei wurde 2012 in Göttingen vom obersten Organ, dem Bundesparteitag, also den Vertretern der Basis, klar und deutlich beschlossen: DIE LINKE fordert eine individuelle sanktionsfreie  Mindestsicherung von 1.050 Euro. Bereits 5 Minuten nach der Abstimmung wurde mir gegenüber von Vertretern einer Strömung angekündigt, dass man diesen Beschluss wieder kippen werde. Die erste Aufweichung dieser Beschlusslage erfolgte bereits im Wahlprogramm 2013 und nun möchte man einen Schritt weiter gehen.

 

Liebe Bundestagsabgeordnete meiner Partei DIE LINKE,

mir liegt eine Stellungnahme von Katja Kipping zu einem geplanten zentralen Anti-Hartz-IV-Antrag vor, der die Alternativen unserer Partei zu Hartz IV aufzeigen soll. Über diesen werdet ihr hiernach am 16.12.2014 abschließend beraten.

Mit Entsetzen muss ich feststellen, dass es in der Fraktion offenbar gegen die Formulierung

„Das Hartz-IV-System ist zu ersetzen durch eine sanktionsfreie, individuelle Mindestsicherung. Unter 1050 Euro netto im Monat droht Armut“

erhebliche Widerstände gibt.

Darf ich diejenigen unter euch, die sich gegen diese Formulierung wehren, daran erinnern, dass das oberste Organ der Partei bereits vor 2 ½ Jahren beschlossen hat:

„Wir fordern die Abschaffung von Hartz IV und wollen stattdessen eine Erwerbslosenversicherung, die den Namen wirklich verdient und eine individuelle sanktionsfreie Mindestsicherung oberhalb der Armutsrisikogrenze zurzeit mindestens in Höhe von 1050 Euro netto monatlich.“

Und im Kurzwahlprogramm zur Bundestagswahl 2013, dem Auftrag, den euch die Partei für die Legislaturperiode mitgegeben hat:

„Wir sagen: Hartz IV ist Armut per Gesetz. Deshalb wollen wir dieses System abschaffen und ein Konzept für eine Mindestsicherung vorlegen, bei der niemand unter 1.050 Euro Einkommen fällt.“

War dies bereits eine Aufweichung der Beschlusslage der Partei, da diese Formulierung verschieden Möglichkeiten offen lässt, so entspricht sie doch genau der von Katja Kipping geforderten und von Einigen unter euch abgelehnten Formulierung.

Die von jenen gewünschte Forderung „Erhöhung des Regelsatzes auf 500 Euro“ war die Forderung der abgelaufenen Legislaturperiode. Beschlossen im Wahlprogramm 2009, also vor über 5 Jahren. In Ermangelung einer Alternative zu unserer Forderung „Hartz IV muss weg!“, da die Partei sich erst in Göttingen auf eine echte Alternative zu Hartz IV einigen konnte (s.o.)

Wenn ich mir die Gegenargumente ansehe, entsteht bei mir der Eindruck, Einige hätten weder mit der Partei noch mit ihrem Auftrag, dem Wahlprogramm, etwas zu tun.

  1. Eine zu hohe Mindestsicherung schwächt die Arbeitslosenversicherung

Zum Einen ist mir nicht ersichtlich, warum eine vernünftige Mindestsicherung die Arbeitslosenversicherung schwächen soll und zum Anderen sei an dieser Stelle die Frage erlaubt: Geht es uns um „heilige Kühe“ oder um die Menschen?

  1. Eine Mindestsicherung kostet viel Geld

Ist mir entgangen, dass meine Partei inzwischen die Schwarze Null zur neuen Göttin erkoren hat? Nur weil es zurzeit so populär ist?

  1. Am Infostand bekommen wir immer wieder Kritik an zu hohen Hartz-IV –Leistungen zu hören

Hier möchte ich unsere Parteivorsitzende zitieren „… eine zunehmende Abscheu gegenüber Menschengruppen, die als vermeintlich „unnützlich“ gelten. Das gipfelt in Menschenverachtung gegenüber Langzeiterwerbslosen und Obdachlosen. Diesem erschreckenden Zeitgeist dürfen wir uns aber nicht beugen. Vielmehr besteht unsere Aufgabe darin, dagegen zu halten und uns für das Prinzip sozialer Grundrechte stark zu machen. Eine Mindestsicherung, die sicher vor Armut schützt, ist ein solches Grundrecht.“

Wenn wir solchen Argumenten nachgeben, was unterscheidet uns dann noch von den anderen, neoliberalen Parteien?

  1. Bisher fordert keine Gewerkschaft und kein Sozialverband die 1050 Euro.

Nehmen wir etwa nur Forderungen von Gewerkschaften und Sozialverbänden auf? Oder haben wir eine eigene Programmatik., die wir konsequent nach außen tragen und um Unterstützung für unsere Forderungen auch bei Gewerkschaften und Sozialverbänden werben sollten? Wie stellen sich die Vertreter dieses Gegenargumentes denn vor, wie wir jemals zu einem demokratischen Sozialismus kommen sollen? Indem wir darauf warten, dass Gewerkschaften und Sozialverbände einen solchen propagieren? Gäbe es heute einen Mindestlohn – auch wenn ich ihn als Schande bezeichne, weil er viele Menschen nicht als zur Gesellschaft gehörig diskriminiert – wenn wir darauf gewartet hätten, diese Forderung zu stellen, bis die Gewerkschaften selbst darauf gekommen wären? Unter gnädiger Zustimmung der SPD.

Bereits vor 2009 hatten uns viele Langzeiterwerbslose den Rücken gekehrt, erst mit unserer Forderung im Wahlprogramm 2009 (500 Euro Regelsatz – 10 Euro Mindestlohn) haben diese wieder Vertrauen in unsere Partei gefasst. Um zu verhindern, dass die Vorurteile vieler in unserer Gesellschaft Benachteiligter gegen uns wieder neue Nahrung erhalten, bitte ich euch dringend, zumindest diesen weichgespülten Parteibeschluss in den Antrag aufzunehmen.

 

Mit sozialistischem Gruß

Ein besorgter Genosse

 

Werner Schulten